Zeig mir den Schlüssel zur Bewältigung von Hass – Eine psychologische Perspektive
Politiker*innen, LGBTQ-Personen, NGO-Mitarbeiter*innen und Aktivist*innen sowie Medienvertreter*innen sind häufig von Hate Speech betroffen. Dipl.-Psych. Sophie Leisenberg berät und behandelt sie. Weil sie bekannt ist für ihre hervorragende Expertise im Problemfeld, ist ihr Terminkalender sehr voll. Sie hat trotzdem glücklicherweise Zeit gefunden für ein ziemlich ausführliches Interview. Barbara Djassi hat ihr Fragen gestellt. (Lesedauer: ca. 7 Min.)
Was rätst du den Betroffenen im Umgang mit Anfeindungen, Beleidigungen und Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind? Wie können sie früh merken, dass sie überfordert sind? Was sind Anzeichen von Traumata?
Häufiger Ärger und exzessives Grübeln über Hasskommentare sowie ein erhöhtes Angst- und Stressempfinden bei Nutzung digitaler Medien sind erste Warnhinweise. Kommen Schlafstörungen, gedrückte Stimmung oder somatische Beschwerden (Asthma, Verspannungen, Magenprobleme etc.) hinzu, oder zeigen sich sogar erste Krankheitsanzeichen wie Panikattacken, Antriebslosigkeit oder dauerhafte Niedergeschlagenheit, dann ist es definitiv wichtig, zeitnah aktiv gegenzusteuern. Traumatische Erlebnisse äußern sich durch Flashbacks/szenisches Wiedererleben bestimmter Momente, ein hohes Nervositätslevel, Zustände emotionaler Taubheit (Dissoziation) und ggf. auch Albträume bzw. schlechter Schlaf. Spätestens hier ist eine professionelle psychotherapeutische Behandlung notwendig.
Hast du das Gefühl, es gibt wirklich effektive Ansätze, etwas gegen das Phänomen Hassrede zu unternehmen bzw. ein gutes Miteinander zu fördern? Welche sind das aus deiner Sicht?
Die wirklich effektiven Ansätze sind langfristiger und gesamtgesellschaftlicher Natur, z.B. emotionales und politisches Empowerment der Bevölkerung, ein dringend notwendiges Update der Bildungspolitik sowie ein Transfer bereits verhandelter Normen in den digitalen Raum.
Mittelfristig wären verbesserte demokratische Verhandlungs- und Beteiligungsprozesse sehr hilfreich, da sie eine gesunde Alternative zu der hilflosen Aggression darstellen, die den Nährboden für gezielte Provokation von Hass bildet. Gleichzeitig ist ein besseres Verständnis für die strategische Vorgehensweise der extremen Rechten in der Manipulation von Emotionen – sowie eine konsequente politische Reaktion darauf – in meinen Augen unabdingbar.
Kurzfristig ist breite Zivilcourage im digitalen Raum, modellhaft höfliches Verhalten in Onlinediskussionen und eine effektive Unterstützung von Betroffenen sehr wichtig. Leider passiert letzteres meiner Erfahrung nach nur stückhaft und häufig unzureichend. Hier gilt es, massiv nachzusteuern (sowohl in Schulungen für Polizei und Politik, als auch im Ausbau von Beratungs- und Unterstützungsstrukturen)
Ein Versuch gegenzusteuern, ist das Konzept Gegenrede. Wir sind allen dankbar, die sich beteiligen. Aber Hassrede zu entgegnen, kostet viel Energie und ist für einige frustrierend. Ist es aus deiner Sicht überhaupt ein sinnvoller Weg? Wie können Engagierte nachhaltig arbeiten und ihre eigene Befindlichkeit im Blick behalten?
Es ist sinnvoll, sich für Gegenrede bestimmte Zeitfenster (z.B. max. 1 Stunde nach der Arbeit o.ä.) einzuplanen – so wichtig diese Strategie gesamtgesellschaftlich ist, so sehr neigt sie auch zur Entgrenzung. Diskussionen mit hartnäckigen Hater*innen kosten zu viel Energie, daher empfehle ich eher einzelne, sachliche Statements mit Betonung einer sinnvollen Position, ohne den weiteren Diskussionsverlauf zu verfolgen. Nach Möglichkeit sollte man auch die Benachrichtigungen zu den Antworten auf den eigenen Beitrag deaktivieren, wenn man Energie sparen möchte.
Man muss in solchen Situationen nicht das letzte Wort haben, die Präsenz einer sachlichen Stellungnahme allein ist schon hilfreich. Wer gerade in einem Energietief hängt, kann auch einfach gute Kommentare anderer Teilnehmer*innen liken. Gruppen wie #ichbinhier bieten außerdem Möglichkeiten, sich gegenseitig in den Kommentarspalten zu unterstützen. Wichtig ist es, sich nicht von der Flut an hasserfüllten Kommentaren entmutigen zu lassen – je ausgeprägter der Hass einer Person ist, desto intensiver kommentiert sie in der Regel, was zu einer Größenverzerrung in der Wahrnehmung führt.
Hinzu kommt, dass die extreme Rechte Hasskommentare strategisch nutzt, um gezielt in kurzer Zeit mit vielen Fake-Accounts pro Person unter bestimmten Threads Mehrheiten zu simulieren, die in der Form jedoch nicht existieren.
Im Grunde hilft es oft, sich den Druck zu nehmen, alles mit einem Kommentar verändern zu müssen. Ab und zu aus der Einzeldiskussion „heraus zu zoomen“ und sich zu fragen, ob diese Diskussion in einem Jahr noch wichtig für einen ist, kann ebenfalls helfen, die Perspektiven zu wahren. Einen digitalen Feierabend sowie digitale Auszeiten von mehreren Tagen sind auch sehr sinnvoll – eine stabile Verankerung in der Realität mit positiven Interaktionen und Aktivitäten ist eine gute Basis, um Hassrede besser aushalten zu können.
Hassattacken sind nur die Spitze des Eisbergs. Was machen wir mit den Ursachen und wo siehst du sie?
Unser demokratisches System, so unverzichtbar es ist, hat Schwächen. Das aktuelle Wirtschaftssystem hat zu großen Einfluss auf politische Entscheidungen und führt darüber hinaus zu starken Arm-Reich-Unterschieden. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Anstrengung auf der einen und Wertschätzung in Form von Entlohnung und gesellschaftlicher Anerkennung auf der anderen Seite führt zu realen Kränkungen und Unsicherheiten, die zu Unzufriedenheit auf „die da oben“ führen. Es ist für die neue Rechte leicht, dieses Frustpotential auf bestimmte Sündenböcke oder vermeintliche Eliten zu lenken und damit machtpolitisch Einfluss zu gewinnen. Außerdem sind die demokratischen Ermächtigungsprozesse gelinde gesagt ausbaufähig. Gesellschaftlich relevante Entscheidungen – selbst auf kommunaler Ebene – werden nicht in Absprache oder Verhandlung mit der Bevölkerung getroffen, auch wenn dies in manchen Fällen möglich wäre. Es fehlt an Transparenz und Mitspracherecht zwischen den Wahlen. Das alles verstärkt das Gefühl bei vielen Menschen, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Grundsätzlich wollen viele gern mitentscheiden – aber sie müssen auch niedrigschwelligen Zugang zu Informationen und Strukturen haben sowie die Befähigung erlangen, diese mündig zu nutzen.
Weiterhin leben wir in einer Zeit, in der gesellschaftliche Progression – auch durch die Digitalisierung – relativ schnell voranschreitet und althergebrachte Privilegien und Identitäten in Frage gestellt werden. Nicht jede*r ist in der Lage, mit dieser subjektiven Einschränkung und der schnellen Veränderung emotional reif umzugehen.
Dort, wo entwicklungspsychologische Verarbeitungsmuster (z.B. langfristiges Denken, Wertetoleranz, Komplexitätstoleranz, individuelle statt Gruppenidentität etc.) noch keine reiferen Level erreicht haben, ist die Anfälligkeit für dysfunktionale Bewältigung bei Stress höher. Unter Belastung (z.B. verstärkter Flüchtlingszuzug) rutschen diese Gruppen leichter in regressives Verhalten, d.h. sie reagieren mit mehr Angst/Katastrophisierung, ohnmächtiger/trotziger Wut, starkem Ich-Bezug, Schwarz-Weiß-Denken und gegebenenfalls auch mit Gewalt. Die Identifizierung erfolgt dann eher über Gruppenzugehörigkeiten, die subjektiv in Gefahr erscheinen und eine „Gegenwehr“ rechtfertigen. Das „Außen“ erscheint als feindlich und muss ferngehalten werden, die Vergangenheit und der Rückzug in einen geschützten Raum, in dem es nur um die eigenen Bedürfnisse geht, wird idealisiert. Auf diese Weise erfüllen nationale (oder Geschlechter-)Grenzen für diese Gruppen neben identitätsstiftenden Aufgaben oft auch die Funktion einer psychischen Grenze gegen Überforderung, Komplexität und angstauslösende Veränderungen.
Verstärkt wird diese Tendenz durch eine Angstintensivierung über rechtspopulistische Aktivitäten. Angst ist grundsätzlich regressionsfördernd und erhöht das Bedürfnis nach starken Autoritäten. Das weiß die neue Rechte natürlich und nutzt dies auch.
Als Aktivist*innen haben wir oft das Gefühl, nur zu reagieren. Hast du eine Idee, wie wir es schaffen, aus der reaktiven Position in die Aktion zu kommen?
Den vielversprechendsten Ansatz sehe ich darin, Projekte für einen gesunden gesamtgesellschaftlichen Umgang mit Veränderung und Stressfaktoren zu entwickeln.
Hass ist psychologisch gesehen eine dysfunktionale Bewältigungsstrategie für Ängste, Selbstwert- und Zugehörigkeitszweifel, Kränkungen und komplexe Anpassungsanforderungen in Zeiten der Globalisierung. Dabei gilt es – anders als manche Politiker*innen es fordern – nicht auf die Inhalte der Ängste einzugehen, sondern eher Wege für eine bessere Angstbewältigung zu suchen.
Also Formate zu finden, in denen Menschen niedrigschwellig Zugang zu politischen Informationen und Akteur*innen haben, Fragen stellen können, Ängste überprüfen können und das Gefühl bekommen, ernst genommen zu werden. Ihre Bedürfnisse äußern und verhandeln zu dürfen, Wertschätzung zu erfahren. Im Grunde geht es um politische Ermündigung und eine Beachtung der psychischen Grundbedürfnisse der Bevölkerung: Verstehbarkeit/Vermeidung von Hilflosigkeit, Anerkennung, Zugehörigkeit und (Ressourcen-)Sicherheit. Gerade in den neuen Bundesländern gab es einmal durch die DDR-Diktatur und dann durch die Wende eine massive Frustration dieser Bedürfnisse, die während der heutigen herausfordernden Zeiten emotional reaktiviert sind (bzw. bewusst durch bestimmte politische Gruppen reaktiviert werden). Studien zeigen zudem, dass politisches Handeln eher gruppenbasiert nach religiösen Mustern erfolgt, anstatt nach rationalen Abwägungen. Die Regierung vernachlässigt die emotionale Perspektive der Bevölkerung zu sehr, was sich rechtspopulistische Akteur*innen zunutze machen.
Abgesehen von diesem Ansatz ist es wichtig, von politischer Seite einen proaktiveren Umgang mit der neuen rechtsextremen Szene, die hauptsächlich digital und global agiert, zu fordern. Hier müssen bessere und international vernetzte Ermittlungsstrukturen geschaffen werden, die Finanzierungsflüsse, rechte Netzwerke und terroristische Aktivitäten im Blick haben und nicht erst handeln, wenn etwas passiert ist. Dies schließt einen konsequenteren Umgang mit rechtsextremen Vereinigungen, - Kulturveranstaltungen und strategisch eingebetteter Bedrohung von politischen oder medialen Vertreter*innen mit ein.
Welche Knöpfe drücken politische Akteur*innen, die Hass und Hetze nutzen um zu polarisieren und doch Erfolg bei Wähler*innen haben?
Aus den internen Strategiepapieren rechter Bewegungen wird deutlich, dass die Provokation starker Gefühle wie Angst, Trotz, Wut oder Stolz (in Bezug auf die eigene In-Group) Kalkül hat und Teil sorgfältiger Planung im Rahmen von Kampagnen ist. Oft werden Gefühle angesprochen, die eher dem kindlichen oder pubertären Emotionsspektrum zuzuordnen sind und schwierig zu regulieren sind bzw. logische Denkprozesse aufgrund ihrer Heftigkeit blockieren.
Menschen mit solchen Emotionen zu manipulieren ist sehr einfach, weil höhere Denkprozesse umgangen und direkt das Gefühl angesprochen wird, oft zusammen mit vorbewussten Assoziationen aus der Biographie der Zielgruppe. Wie gut das funktioniert, sieht man z.B. an den häufigen DDR-Bezügen, die rechtspopulistische Slogans enthalten – über diese sog. „Affektbrücken“ werden stark besetzte Erinnerungen ausgelöst, die in der Gegenwart zu einer Wahrnehmungsverzerrung führen. So wird auf einmal die demokratisch verhandelte Sanktion von Rassismus oder Sexismus mit dem Wort „(Meinungs-)Diktatur“ verknüpft, oder die Wahl einer bestimmten Partei mit den Befreiungsgefühlen der Wende. Diese Suggestionen werden so häufig wiederholt, dass die Ängste und Erinnerungen der Zielgruppe die Realität schließlich überlagern und diese tatsächlich (wieder) eine Entmündigung fühlen, gegen die sie sich wehren müssen. Eine Realitätsüberprüfung findet durch die starke Filterblasenbildung nicht mehr statt, weshalb die Menschen dann immer anfälliger für politische Einflussnahme werden.
Zusätzlich findet eine Immunisierung gegen differenzierende oder kritische Informationen statt, indem anderslautende Nachrichten als „Lügenpresse“ abgestempelt werden. Übrig bleibt ein explosives Gemisch kindlich-aggressiver Impulse, deren unkontrolliertes Ausleben strategisch von rechten Akteur*innen ermutigt und auf politische Gegner gelenkt wird. Problematisch ist, dass in der heutigen gesellschaftlichen Realität Entmündigung und Benachteiligung nicht nur in Erinnerungen oder Befürchtungen existiert, sondern auch real vorkommt. Die Interessen von weniger privilegierten Menschen sind in politischen Entscheidungen unterrepräsentiert und nicht wenige bekommen zu Recht das Gefühl, dass zwischen den Wahlen das Mitspracherecht an politischen Entscheidungen dürftig gesät ist. Entsprechend leicht ist es, von rechts entsprechende Affektbrücken zu knüpfen.
Wenn eine Gesellschaft also eine bessere Resilienz gegen antidemokratische Bewegungen wünscht, dann sollte sie den Menschen das Gefühl geben, respektiert und gehört zu werden. Die dafür notwendige Differenzierungsfähigkeit mit den dazugehörigen Informationen müssen jedoch gesellschaftlich trainiert werden und durch politische Transparenz unterstützt werden.
Sind wir aus psychologischer Sicht überhaupt in der Lage, gute Demokrat*innen zu sein? Oder schafft sich die Demokratie am Ende doch selbst ab?
Der Schlüssel zu einer funktionierenden Demokratie ist die emotionale Reife ihrer Mitglieder. Das heißt konkret, dass Konflikte nicht dysfunktional, sondern über reflektierte, sachliche Verhandlung gelöst werden. Dies ist eine hohe Kunst, die geübt werden will – in der Schule, in Projekten, Vereinen, kommunalen Treffpunkten und in Beteiligungsprozessen auf kommunaler und nationaler Ebene. Demokratiebefähigung muss man breit gefächert lehren – und den Menschen genügend Zeit, Ressourcen und Wissen an die Hand geben, um sich eine mündige Meinung zu bilden. Diese dann auch ernst zu nehmen und in politische Entscheidungen einzubeziehen (v.a. auf kommunaler Ebene) ist dann der zweite Schritt. Je mehr man in Schritt eins investiert, desto ungefährlicher ist Schritt zwei.
Das Schulsystem sollte neben der Demokratiebefähigung außerdem stärker Metawissen (=Fähigkeiten zur Wissensaneignung) anstatt reinen Faktenwissens vermitteln. Menschen müssen in Zeiten des Informationsüberflusses lernen, wie sie valide Informationen finden bzw. wie sie Falschnachrichten und Manipulation erkennen.
Im Grunde brauchen wir ein zweites, ein digitales Aufklärungszeitalter mit der Befähigung von Menschen, Wahrheit von Unwahrheit auf fundierter Basis zu unterscheiden. Tatsächlich sind wir jedoch, wie der frühere Google-Entwickler Tristan Harris kürzlich richtig anmerkte, aktuell wieder auf dem Weg in ein von Aberglauben und Ideologien dominiertes „digitales Mittelalter“.
Wer emotionale Reife erlangt – und in einer förderlichen Umwelt kann dies jede*r – der/die braucht hingegen keinen autoritären Staat, der auf entmündigende Art Schutz verspricht. Der verliert sich auch nicht in Ängsten oder projiziert diese in bestimmte Bevölkerungsgruppen hinein. Und zu guter Letzt wird eine solche Person auch weniger anfällig für Manipulation sein, mit Veränderungen konstruktiver umgehen und sich damit seltener so ohnmächtig fühlen, dass Gewalt als ultima ratio eingesetzt wird. All dies würde zu einer Schwächung rechter Strukturen führen, die regressive Impulse der Bevölkerung zum Aufbau kritischer Massen und Wählergruppen nutzen.
Versäumt es der Staat jedoch (wie damals in der Weimarer Republik), mit gesellschaftlichen Kränkungen adäquat umzugehen und die Bevölkerung in ein selbständigeres, reiferes Denken hinein zu schulen, dann ist die Gefahr einer „gewählten Diktatur“ sehr hoch. Insofern ist die Regierung gut beraten, Ressourcen in die Demokratiebefähigung der von ihr regierten Gesellschaft zu investieren, auch wenn sie ihre Macht dann stärker teilen muss. Langfristig ist ein solcher Schritt jedoch zum Erhalt der Demokratie selbst unerlässlich.
Demokratisches Miteinander und Resistenz gegen politische Manipulation – on- und offline – muss erlernt werden. Wenn du vergleichst, wie Digital Natives und ihre Eltern und Großeltern mit Hass im Netz umgehen, gibt es da eklatante Unterschiede? Was können wir von Jugendlichen lernen? Was können Eltern tun, um sie gut zu stärken und behüten, obwohl sie die Gefahren selbst gar nicht kennen?
Die heutige Generation von Kindern und Jugendlichen sind zwar sehr medienaffin, besitzen jedoch eine unterdurchschnittliche Medienkompetenz. Damit ist vor allem eine verantwortungsvolle und informierte Nutzung von Medien gemeint, im vollen Bewusstsein für die dort lauernden Gefahren und der gleichzeitigen Chancen. Daher ist eine autoritäre Begrenzung der Mediennutzung auch keine sinnvolle Option, weil dies nicht zu einer höheren Kompetenz der Jugendlichen führt. Besser wäre es, sich in einen interessierten Austausch zwischen den Generationen zu begeben und sich von der jüngeren Generation die Dinge erklären zu lassen, die sie begeistern. Oft hilft es dabei, die Anziehungskraft bestimmter Formate zu verstehen, und die Kinder bekommen das Gefühl, in ihren Interessen ernst genommen zu werden. Und vielleicht ist es ja auch spannend für ältere Menschen, einmal mit ihren Enkeln ein Computerspiel zu spielen oder etwas in den sozialen Medien zu posten?
Gleichzeitig kann man über Fragen und offene Diskussionen bestimmte Probleme besprechen, z.B. den übermäßigen Fokus auf Außenfeedback zur Selbstwertstabilisierung, das hochanfällig für Hatespeech macht. Wenn sich Eltern selbst nicht so gut auskennen, können sie die Probleme dennoch mit den Jugendlichen zusammen recherchieren – ich rate aber auch dringend zu Fortbildungen/Literatur zu dem Thema. Das lohnt sich im digitalen Zeitalter und ermöglicht das Schließen von Bildungslücken, die der eher veraltete Lehrplan in den Schulen im digitalen Zeitalter offen lässt. Es gibt auch sehr kreative Lernformate, z.B. die Erstellung eigener „Fakenews“ zum Verschicken an Freunde und Verwandte: hier wird spielerisch deutlich gemacht, wie leicht es ist, Informationen zu fälschen und wie schnell die Bezugsgruppe darauf hereinfällt. So etwas ist wesentlich wirksamer, als mit erhobenem Zeigefinger Vorträge zu halten. Auch kann man mit den eigenen Kindern üben, wie sie Quellen aus dem Internet überprüfen und Manipulation erkennen. Das schließt natürlich das Aufstellen von Regeln nicht aus; im Idealfall stellt man eine altersgerechte Mischung aus Austausch, Reflexion und Begrenzung her. Auch sollte man Kinder über Cybergrooming und andere Gefahren im Internet explizit aufklären.
Was wünschst du dir von der Politik?
Neben all den genannten Befähigungen zur Demokratie muss eine Bevölkerung auch im Kontext einer wertschätzenden, beteiligungsoffenen und möglichst gerecht agierenden Gesellschaftsstruktur leben können. Dies zu verwirklichen liegt auch in der Verantwortung des Staates.
Um eine bessere Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu erreichen, sollte der Fokus außerdem weg von ineffektiven „Einmalprojekten“ hin zur dauerhaften Verstetigung gut evaluierter Konzepte und Strukturen verlaufen - damit gerade die elementaren Kleinprojekte im kommunalen und ländlichen Raum nicht eine Zitterpartie von einer befristeten Bewilligung zur nächsten auf sich nehmen müssen. Die Förderlandschaft sollte sich mehr in Richtung Best Practice, Kultur/Beteiligung und Nachhaltigkeit bewegen.
Unerlässlich ist wie gesagt auch eine stärkere Bekämpfung von rechtsradikalen Strukturen in Justiz und Exekutive sowie mehr politisches Wissen um die neuen Alt-Right-Formate und ihre Strategien. Dazu gehört auch, Betroffene stärker zu schützen und juristische Anlaufstellen zu schaffen, die sich wirklich mit dem Thema auskennen. Oft wird organisierte Hassrede, die sich massiv auf Betroffene richtet und deren systematische Zerstörung auf allen Ebenen (finanziell, psychisch, sozial) zum Ziel hat, immer noch fälschlicherweise als Beleidigung fehlinterpretiert. Dies unterschätzt die strategische Komponente massiv und übersieht außerdem den politischen Gesamtzusammenhang mit der schrittweisen Entmenschlichung politischer Gegner*innen. Das halte ich für hochgefährlich.
Möchtest du gern noch etwas loswerden?
Der Schlüssel zur Bewältigung von Hass ist emotionale Reife. Ich plädiere dringendst für eine stärkere Förderung aller Einrichtungen, die diesen Entwicklungseffekt auf Menschen haben (Jugend- und Sportvereine, modernere Bildungsansätze in Familienhilfe und Schulen, kleine kommunale Treffs, Kulturveranstaltungen, Demokratieförderungsprojekte, direktdemokratische - und Beteiligungsansätze etc.). Sie sind das Herz gesellschaftlicher Reifungsprozesse. Außerdem möchte ich gern Prof. Heitmeyer zitieren, der schon vor langer Zeit eine „Wertschätzungs- und Anerkennungskultur“ vorschlug, um Gewalt den psychischen Nährboden zu entziehen. Dem würde ich mich uneingeschränkt anschließen.