Statement

Was macht die Corona-Pandemie mit der Diskussionskultur im Netz?

Schriftzug "Hang in there"
Hang In There. United Nations Global Call Out To Creatives - help stop the spread of COVID-19.  |  © Bild von Ayşegül Altınel für United Nations

22.04.2020

@ichbinhier: “Was macht #Covid_19 mit der Diskussionskultur im Netz? Was ist Eure Wahrnehmung?”

Twitter-Nutzer*in: “Es ist meiner Meinung nach eher ruhiger geworden. Die Leute regen sich weniger wegen allem und jedem auf.”



21.04.2020

@Das_NETTZ: “Was macht #Covid_19 mit der Diskussionskultur im Netz? Was ist Eure Wahrnehmung?”

Twitter-Nutzer*in: “Der Tonfall ist meiner Meinung nach insgesamt rauher geworden. Viele Abwertungen, die die persönliche Lebensweise betreffen.”

Beobachtungen zum Online-Diskurs während der Corona-Pandemie

Wir befinden uns in einem gesellschaftlichen Ausnahmezustand. Eine globale Krise wie die Corona-Pandemie haben wir noch nicht erlebt. Die Ungewissheit über die Dauer der Maßnahmen und fehlende Perspektiven haben psychologische Auswirkungen auf jede/n Einzelne/n von uns. Menschen verlieren Orientierung und Sicherheit. Das spiegelt sich auch im öffentlichen Diskurs wieder. Wie sich die Diskussionskultur im Internet seit Beginn der Krise verändert hat, haben wir analysiert und am 30.4. bei unserem digitalen Stammtisch vorgestellt. Unsere Beobachtungen findet ihr im Video (17 Minuten).

Hinweis

Mit dem Aufruf des Videos stimmen Sie zu, dass Ihre Daten an YouTube und Google übermittelt werden und Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen haben.

*Die Analyse erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern gibt lediglich ein Stimmungsbild wieder.

Wir stehen erst am Anfang einer gesellschaftlichen Krise

Die Einschränkungen der Pandemie stellen den Anfang einer gesellschaftlichen Krise dar. Frustrationen, die gegenwärtig präsent sind, werden durch existenzielle und Zukunftsängste verstärkt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass Ängste spätestens zur Bundestagswahl 2021 politisch instrumentalisiert werden. Wir brauchen also mehr denn je eine resiliente Gesellschaft. Dazu kommen wir nur, wenn wir zentrale Herausforderungen gemeinsam bewältigen. Eine starke Zivilgesellschaft ist dafür eine gute Grundlage. Mehr Menschen nutzen frei gewordene Zeit für zivilgesellschaftliches Engagement. All das müssen wir bündeln, denn jetzt ist die Zeit für Kollaborationen. Wir wissen nicht, wie die Zeit nach der Krise sein wird und wann sie kommt, aber wir können uns jetzt darauf vorbereiten, indem wir uns besser organisieren.

Acht Herausforderungen für die Online-Diskussionskultur

Aus den Umfragen und Diskussionen zum digitalen Stammtisch haben wir acht zentrale Herausforderungen extrahiert, für die wir strategische Ansätze brauchen. 

1. Verbreitung von Verschwörungsmythen

Eine der größten Herausforderungen im öffentlichen Diskurs ist die Verbreitung von Falschnachrichten und Verschwörungsmythen. Alternative Realitäten werden erschaffen. Die Vernunft im Diskurs geht verloren. Welche Dimensionen das annehmen kann, wird in der gegenwärtigen Corona-Pandemie besonders deutlich. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden verächtlich gemacht. Antisemitismus und Rassismus zirkulieren in Kombination mit toxischen Narrativen. Das Gefährliche an Verschwörungsmythen ist die gesteigerte Bereitschaft zur Gewalt. Zugang zu Whatsapp und anderen Messenger-Anbietern bleibt eine Herausforderung, weil vieles im Privaten passiert.

“Man weiß, dass der abstrakte Glaube an Verschwörungen mit einer gesteigerten Affinität zu Gewalt einhergeht. Das sind Menschen, die weniger Möglichkeiten der politischen Partizipation nutzen und sich stattdessen eher gewalttätigen Alternativen zuwenden.”
Pia Lamberty
Psychologin im Interview mit der taz

Dabei sind Verschwörungserzählungen nicht neu, sie zirkulieren schon immer, aber bekommen jetzt in der Krisenzeit mehr Anhänger*innen. Sie bieten eine gewisse Orientierung, indem Schuldige benannt werden können. Vieles davon entsteht auch im privaten Raum. In unserer Diskussion wurde betont, dass es wichtig ist, diese privaten Erzählungen in den öffentlichen Raum zu tragen, um sie zu entkräften. Die Amadeu Antonio Stiftung leistet mit ihrem Projekt No World Order zum Umgang mit Verschwörungsmythen wertvolle Aufklärungsarbeit, z.B. in Form der Broschüre “Wissen was wirklich gespielt wird … Krise, Corona und Verschwörungserzählungen”. Weitere gute Hilfestellungen sind die Corona-Faktenchecks von correctiv oder Webinare und Tipps von Kleiner zur Argumentation im Familien- und Bekanntenkreis.

2. Radikalisierung der Unzufriedenen

Text auf Mauer #VIRUSOFCONTROL
Text auf Mauer #VIRUSOFCONTROL  |  © Etienne Girardet | Unsplash

Ob Querfront oder Widerstand2020 - Unzufriedenheit formiert sich und mobilisiert mit einfachen Lösungen. Aus unterschiedlichen Milieus äußern Menschen ihren Unmut auf “Hygienedemos” oder im Netz. Die Bewegung wirkt groß. Klar ist jedoch, dass es sich um eine Minderheit der Bevölkerung handelt, die gerade (zu) viel Aufmerksamkeit bekommt. Sieben von zehn Deutschen (70 Prozent) sind zufrieden mit der Art und Weise, wie die Regierung mit dem Coronavirus umgeht. Dass sich unter den Protestierenden Rechtsextreme befinden, die diese Krise instrumentalisieren, sollte also allen klar sein, die sich ihnen anschließen. Dass diese Bewegung nicht harmlos ist, wird an ihren Äußerungen in Telegram-Kanälen, deutlich, in denen sie auch Waffengewalt legitimieren. Dass Populist*innen keine vertretbaren Strategien im Umgang mit der Krise haben, wird nicht nur in Deutschland, sondern z.B. auch in Großbritannien, Brasilien oder den USA deutlich. Sinkende Umfragewerte für rechtspopulistische Parteien in Deutschland sind kein Grund zur Beruhigung, sondern eher zur Wachsamkeit, vor allem im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl. 

3. Empowerment für Diskriminierte

Diejenigen, denen die Schuld am Virus gegeben wird, brauchen mehr Unterstützung. Verschwörungsmythen, gepaart mit Rassismus, Hetze gegen Geflüchtete, Antisemitismus und Diskriminierung von anderen marginalisierten Gruppen, laufen gerade auf Hochtouren. Um jenen, die nicht davon betroffen sind eine Vorstellung davon zu geben, hat Belltower News rassistische Vorfälle seit Februar dokumentiert. Im alltäglichen Leben und auch im Netz brauchen diese Menschen unseren Schutz und unsere Solidarität.

4. Aufmerksamkeit für andere Themen

Vor allem für die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen ist die Dominanz von Corona als Thema in der Berichterstattung und in Diskussionen ein großes Problem. Bei unserem Stammtisch berichtete CLAIM von einer erhöhten Wahrnehmung für antimuslimischen Rassismus nach den Ereignissen in Hanau. Seit der Coronakrise ist es schwer, dieses Thema weiter voranzubringen. Diese Situation ist auf andere zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Themen übertragbar. 

5. Hass gegen Wissenschaftler*innen

Sachlichkeit und wissenschaftliche Expertise sind zwei Dinge, die besonders am Anfang der Krise als positiv wahrgenommen wurden. Inzwischen müssen sich wissenschaftliche Erkenntnisse gegenüber Falschnachrichten und Verschwörungen behaupten. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden verächtlich gemacht.

"In einer Welt, die sich durch und durch rational und vernünftig gibt - sinnbildlich verkörpert in der Figur der Expertin oder des Experten -, kann die Attraktivität des Irrationalen genutzt werden, um mit einer Gegenbewegung zu reagieren."
Patrick Gensing
Journalist, Faktenchecker, Autor von "Fakten gegen Fake News"

Es gibt immer wieder Hasskommentare und Morddohungen gegenüber Wissenschaftler*innen und Politiker*innen, die gegenwärtige Maßnahmen verteidigen. Der Hass geht nicht von der Mehrheit unserer Gesellschaft aus, sondern von kleinen radikalen Gruppierungen. Ziel der Angreifer ist es, jene Menschen mundtot zu machen. Dabei brauchen wir genau diese Expert*innen und ihre Erkenntnisse im öffentlichen Diskurs. Sie verdienen unsere Unterstützung und Solidarität.

6. Konstruktive Diskussionen statt Lagerbildung

Inzwischen ist die Situation für alle emotional. Bei unserem Stammtisch berichten Teilnehmer*innen von der Zunahme absoluter Positionen. Zwischen Wut und Akzeptanz scheint es kaum noch Facetten zu geben. Es bilden sich Lager, die Fronten verhärten sich. Nicht mit allen kann man reden, aber doch mit vielen. Es ist völlig verständlich, dass uns diese Krise emotional fordert, aber können wir Emotionen nicht auch für Positives nutzen? Wie Teresa Bücker im aktuellen Podcast der Süddeutschen Zeitung resümiert:

“Wut ist Ausdruck von ‘Das ist mir wirklich wichtig’ und ‘Mir ist wichtig, dass sich das ändert’. Wut muss nicht bedrohlich sein. Es gibt auch produktive Wut.”
Teresa Bücker
Journalistin und Feministin

Diese Art von Wut beschreibt die Journalistin im Kontext feministischer Themen, aber diese Art von Wut ist die Grundlage für viele Arten von Veränderungen - auch in diesen Zeiten. In öffentlichen Gesprächen brauchen wir Räume für kontroverse konstruktive Gespräche - vor allem in Krisenzeiten. Es gibt doch so einiges, was wir aus dieser Krise lernen und mitnehmen können. 

7. Solidarität bewahren

In einigen Kommentaren wurde von mehr Solidarität, Zusammenhalt und Wir-Gefühl berichtet. Es keimte ein neues Miteinander auf. Alle sind in der gleichen Situation. Das verbindet - scheinbar aber nicht dauerhaft. Als die Frage zur Diskussionskultur einen Monat später gestellt wurde, ist Solidarität nicht mehr genannt. Dabei werden wir noch viel davon brauchen, angefangen bei der Solidarität mit den Opfern der Pandemie, Diskriminierte, Wissenschaftler*innen ...

“Gegen den digitalen ,Infokrieg' und die Straßenproteste müssen die große Solidarität und das verantwortliche Handeln der Allermeisten immer wieder sichtbar gemacht werden. Dies ist auch nötig, um die Moral für den voraussichtlich noch langen Weg der Krisenbewältigung aufrechtzuerhalten und weitere Ansteckungswellen zu verhindern.”
Dr. Matthias Quent
Soziologe, Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena

Solidarität kann für ganz unterschiedliche Bereiche als Pfeiler für Zukunftsvisionen dienen. Im öffentlichen Diskurs brauchen wir Solidaritätserzählungen statt Bedrohungsszenarien. Wie können wir Solidarität dauerhaft und sichtbar in unserer Diskussionskultur verankern?

8. Gesteigertes zivilgesellschaftliches Engagement nutzen

Die Medien nehmen als Kanal zur Krisenbewältigung gerade eine sehr zentrale Rolle ein. Gespräche mit Freund*innen, Familie oder Arbeitskolleg*innen sind nur eingeschränkt möglich. Wer mit seinen Thesen in alternative Realitäten abdriftet, kann durch fehlende Kontakte im sozialen Umfeld nur schwer zurück geholt werden. Im Netz artikulieren viele ihre Frustration. Der Ton wird rauer. Umso mehr müssen wir uns für eine konstruktive Online-Gesprächskultur stark machen. Bei Diskussionen im digitalen Raum beobachten viele Engagierte mehr Aktivitäten als sonst - sowohl in negativer als auch in positiver Hinsicht. Es gibt mehr Trollkommentare, verhöhnende Memes und Hass. Es gibt aber auch mehr Menschen, die ihre freie Zeit sinnvoll einbringen. Wir müssen dieses Engagement nachhaltig nutzen.

“Die Demokratie verliert zentrale Kommunikations- und Integrationsmittel: den direkten Austausch, Bürgergespräche, offene Foren, Vereinsleben und Kneipengespräche, politische Bildung und soziale Arbeit nah an den Menschen. Der Zivilgesellschaft und der Politik bleiben nur die Medien, um Widerspruch zu artikulieren.”
Dr. Matthias Quent
Soziologe, Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena

Digitale Zivilcourage brauchen wir mehr denn je. Projekte wie ichbinhier e.V. bieten dafür eine wunderbare und Home-Office-taugliche Möglichkeit. Andere digitale Formen zur politischen Beteiligung sind z.B. Petitionen oder Spendenaktionen.

Was brauchen wir für die Diskussionskultur in Krisenzeiten?

Illustration Solidarität
Kindness Contagion. Image created by Adam Niklewicz. Submitted for United Nations Global Call Out To Creatives - help stop the spread of COVID-19.  |  © Adam Niklewicz für die Vereinten Nationen | Unsplash

In einer Zeit, in der es an Perspektiven mangelt, müssen wir aufpassen, dass nicht diejenigen Orientierung bieten, die unsere Gesellschaft spalten wollen. In der Zivilgesellschaft gibt es bisher zwar mehr Engagement, aber noch kaum inhaltliche Visionen. Für gesellschaftlichen Zusammenhalt brauchen wir gemeinsame, positive Narrative, die wir im Online-Diskurs sichtbar machen. Wir brauchen Vorstellungen, wie wir die Zeit nach Corona gestalten wollen. In der Diskussion während unseres Stammtischs schlug ein Teilnehmer #DasNeueWir vor, was wir mit Inhalten befüllen wollen. Zahlen, Daten und Fakten beherrschen den gegenwärtigen Diskurs, aber was sind unsere Utopien für die Zukunft? Wie sieht #DasNeueWir aus? Welche Gefühle und Werte wollen wir damit transportieren? Welche Bilder und Narrative verbinden wir damit? Was und wen brauchen wir dafür? Wir können jetzt die Narrative vorbereiten, die unsere Gesellschaft durch die Zukunft navigieren. 

Zusammenhalt ist für die Überwindung von Krisenzeiten entscheidend. Für uns als Zivilgesellschaft bedeutet das, dass wir mehr in kollaborativen Projekten denken müssen. “Vieles ist dezentral, muss aber zentraler organisiert werden”, merkte eine der Teilnehmerinnen unseres Stammtischs an. Die wirtschaftliche Rezession und bevorstehende Bundestagswahl erfordern eine Vernetzung und Zusammenarbeit, um den oben genannten Herausforderungen zu begegnen. “Wir müssen vom Krisenmanagement weg, hin zum strategischen Austausch und Handeln.” (TN des digitalen Stammtischs). Wie können wir neben der Krisenbewältigung trotzdem gemeinsam Themen setzen? Welche politischen Forderungen können wir gemeinsam vorantreiben? 

Vernetzung ist in Krisenzeiten besonders wichtig, um gemeinsam:

  • strategische Themenfelder zu definieren
  • Utopien für die Zeit während/nach der Krise zu entwickeln
  • Narrative für die nahe Zukunft zu schreiben
  • #DasNeueWir mit Inhalten zu befüllen
  • an technischen Lösungen zu arbeiten
  • Forderungen gegenüber Politik und Wirtschaft zu formulieren
  • Aktionen und Projekte zu starten

Dieser digitale Stammtisch war ein Anfang für den gemeinsamen Austausch während der Krise. Wir wollen gern daran anknüpfen und einen regelmäßigen Modus finden, um die genannten Themen voranzubringen. Wenn ihr zu diesen Punkten mit uns weiterarbeiten wollt oder sogar konkrete Ideen habt, dann meldet euch bei uns!

Foto Nadine Brömme
Autor*in

Nadine Brömme

(sie/ihr) Co-Gründerin / Co-Geschäftsführerin

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