Umgang mit Radikalisierung und Hass im Netz
Vermehrter Hass und eine sich polarisierende Gesellschaft erscheinen als dringlichste Probleme unserer Zeit. Sowohl im On- als auch im Offline-Bereich werden individuelle „Filterblasen“ als einer der verursachenden Faktoren dieser Entwicklungen beobachtet. Gleichzeitig beziehen sich rechtsextreme und islamistische Akteur*innen vermehrt aufeinander, liefern Argumente, die den Hass auf den jeweils Anderen und die Gesellschaft zyklisch verstärken. Um dieser Spirale entgegenzuwirken, suchen wir Antworten, die wir in einem interaktiven Format mit dem Publikum und Expert*nnen diskutieren möchten.
Am 30.05.18 veranstalteten wir, Das NETTZ, in Kooperation mit dem Violence Prevention Network die Paneldiskussion “Umgang mit Radikalisierung und Hass im Netz”. Den daraus entstandenen Podcast könnt ihr hier hören:
Das NETTZ: Podcast-Folge “Umgang mit Radikalisierung und Hass im Netz” Langversion
Das NETTZ: Podcast-Folge “Umgang mit Radikalisierung und Hass im Netz” Kurzversion
Till Baaken vom Violence Prevention Network (VPN), Extremismus- und Terrorismusforscherin Julia Ebner vom Institute for Strategic Dialogue (ISD) und Alex Urban Leiter der Aktionsgruppe #ichbinhier eröffneten die Runde, die Hanna Gleiß (Das NETTZ) moderierte. Später öffneten wir die Diskussion für das Publikum.
"Junge Menschen, die Fehler begangen haben, müssen eine Chance erhalten, ihr Verhalten zu ändern und einen Ausweg aus der Gewalt zu finden. (...) Die Gewaltszene ist gut organisiert und wer einmal dabei ist, für den ist ein Ausstieg schwer."
Dieser Satz entstammt dem Leitbild des Violence Prevention Networks, dessen Mitarbeiter*innen durch Deradikalisierungsarbeit extremistisch motivierte Gewalttäter*innen dazu bringen wollen, ihr Verhalten zu ändern und (wieder) Teil des demokratischen Gemeinwesens zu werden. Einige der Geschichten könnt Ihr auf der Website nachlesen. Wir trafen das Team Anfang des Jahres und erfuhren, dass sie ihre pädagogischen Ansätze auch zunehmend in den Online-Raum übertragen. Dabei ist die Onlineberatung von Radikalisierungsgefährdeten gemeint, ein Feld, das insgesamt noch am Anfang steht, aber immer wichtiger wird. Ein guter Grund für eine gemeinsame Veranstaltung.
Auch die Amadeu Antonio Stiftung arbeitet mit ihrem Projekt Debate Dehate in eine ähnliche Richtung. Die Pädagog*innen treten online mit rechtsaffinen Jugendlichen in Dialog. Soziale Netzwerke sind Orte der Identitätsbildung. Genau das machen sich radikale Gruppen zunutze. Deswegen muss Präventions- und Interventionsarbeit mehr ins Digitale übertragen werden. Erste Erfahrungen in der digitalen Sozialarbeit, werden in der aktuellen Broschüre Digital Streetwork. Pädagogische Interventionen im Web 2.0 beschrieben.
Radikalisierungsgefahr durch die Strategien einer lauten Minderheit
Die zunehmende Notwendigkeit dieser Interventionen wird durch eine aktuelle Studie "Hass auf Knopfdruck - Eine laute Minderheit dominiert die Kommentarspalten sozialer Netzwerke" (2018) des Institute for Strategic Dialogue und #ichbinhier bestätigt. Es wurden 1,6 Mio. Beiträge in den Kommentarspalten von Facebook in Deutschland untersucht. Eine kleine, aktive Gruppe Rechtsextremer nutzt gezielt unmoderierte Kommentarspalten reichweitenstarker Medien, um ihre oft verfassungsfeindlichen Narrative in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Auf nur 0,02 % der analysierten Facebook-Accounts sind etwa 50 % der Likes bei hasserfüllten Inhalten zurückzuführen. Eine gute Zusammenfassung der Studie gibt es auf Belltower News.
“Es ist nicht unser Ziel, Rechte zu überzeugen. Wir wollen den Mitlesern zeigen, dass man Diskussionen auch freundlich führen und Kritik auch sachlich und konstruktiv äußern kann. Damit sie sich nicht radikalisieren und genauso heftig ihre Emotionen verbreiten.” (Tagesspiegel, "Wir kapitulieren nicht!", 21.02.18)
Die Bedeutung von Gegenrede auf sozialen Netzwerken
Einen anderen Ansatz vertritt die Gegenrede-Community #ichbinhier, die auf Facebook mit sachlicher Gegenrede gegen Hasskommentare vorgeht. In ihrem Fokus stehen vor allem auch die Mitlesenden. Denn es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die extremen Ansichten einer kleinen, aber lauten Minderheit, den Großteil der Gesellschaft repräsentiert. Anders als beim Violence Prevention Network oder der Amadeu Antonio Stiftung, haben die meisten Mitglieder von #ichbinhier keine pädagogische Expertise, sondern sind Freiwillige, die die Veränderung des öffentlichen Diskurses beobachten und sich deswegen engagieren.
„Natürlich gibt es auch zwischen den Zeilen viele Provokationen, die man über zynische, hämische Kommentare weiterbringen kann und das ist natürlich sehr gefährlich. Ich habe das Gefühl, das schwappt aus Facebook oder Twitter auch in die Politikersprache mittlerweile über.“
Das Team von #ichbinhier hat also ein gutes Gespür für den sich verändernden Ton im Netz und die Strategien extremistischer Gruppierungen in öffentlichen Debatten. Die Tatsache, dass fragwürdige Begriffe wie “Asyltourismus” aus Kommentarspalten in die politische Debatte aufgenommen werden, zeigt, dass die Strategien funktionieren. Sie beeinflussen die Medien und Politiker*innen. Die Gefahr der Radikalisierung Mitlesender besteht absolut.
„Ich denke, dass es mittlerweile durch die sozialen Medien so gekommen ist, dass es Bewegungen wie die Identitäre Bewegung oder Reconquista Germanica schaffen, so laut gehört zu werden, dass es notwendig ist, einzuschreiten. Einerseits das Bewusstsein zu schaffen, welche unfairen Methoden sie verwenden und mit welchen meinungsverzerrendenden Mitteln sie arbeiten und andererseits dem mit Zivilcourage entgegen zu treten.“
Die Strategien der Extremisten
Mit den Strategien von Rechtsextremen und von Islamisten setzt sich auch das Institute for Strategic Dialogue auseinander. Julia Ebner untersucht in ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Wechselverhältnisse zwischen Islamisten und Rechtsradikalen. Insbesondere die Online-Strategien radikalisierter Gruppen bekommen eine zunehmende Relevanz, weil sie gut funktionieren. Diesbezügliche Forschung und Aufklärung ist gegenwärtig eine wichtige Grundlage für die Arbeit von Vereinen wie dem Violence Prevention Network, #ichbinhier oder der Amadeu Antonio Stiftung.
„Viele wissen ganz genau, wie sie ihre rechtsextremen Ideologien verschleiern können, sodass sie nicht unter das NetzDG fallen, sondern sie haben sich mittlerweile sehr stark angepasst und verwenden Code-Wörter und ihre eigene Sprache, die es gar nicht ermöglicht, sie mit Artificial Intelligence oder Machine Learning zu entdecken. Sie nutzen diesen Grauzonenbereich sehr gezielt aus.“
Was liegt also näher, als diese Expert*innen zusammenzubringen und mit ihnen zum “Umgang mit Radikalisierung und Hass im Netz” zu diskutieren? Genau das haben wir getan und blicken auf einen sehr besonderen und aufschlussreichen Abend zurück, der hoffentlich erst der Anfang eines andauernden Austauschs ist.
"Radikalisierungsverläufe sind stets individuell und deswegen ist ein standardisiertes Verfahren schwierig.“
Freiwilligkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen als größte Hürden in der Online-Arbeit
Die Komplexität der individuellen Situationen erschwert die Übertragbarkeit und damit auch die Skalierung eines festen, immer wieder anwendbaren Tool-Sets. Deradikalisierungsarbeit muss von Expert*innen geleistet werden. Besonders wenn es um den Transfer pädagogischer Maßnahmen vom analogen in den digitalen Raum geht. Im direkten Gespräch ist es leichter, Vertrauen aufzubauen. Außerdem muss eine Freiwilligkeit des Gegenübers gegeben sein. Er oder sie muss selbst daran interessiert sein, an der Situation etwas verändern zu wollen oder zumindest offen für ein Gespräch sein. Schon dieser erste Schritt scheint online schwierig. Es ist eine große Herausforderung, die richtigen Menschen zu identifizieren und mit ihnen überhaupt in Kontakt zu kommen. Die nächste Hürde ist eine Vertrauensbasis, die entstehen muss.
“Diese Offline-Ansätze auch online zu übertragen, ist nicht immer einfach. Glaubwürdigkeit herzustellen und online das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, ist schwieriger als offline. (...) Im Laufe eines Gesprächs kritische Reflexion zu entwickeln, ist schwierig, denn im Zweifelsfall schreiben sie online nicht mehr zurück.“
Wissenstransfer zwischen den Organisationen
Wir müssen die Felder herausarbeiten, in denen Organisationen voneinander lernen können. Dabei geht es nicht darum, in Kommentarspalten mit Extremisten zu reden. Aber wir können versuchen, über die Forschung von Organisationen wie dem Institute for Strategic Dialogue ihre Strategien besser zu verstehen, um passende Maßnahmen zu entwickeln. Die Tatsache, dass in deutschen Kommentarspalten auf Facebook eine Minderheit Hass und Hetze verbreitet, hilft dabei, gegen diese vorzugehen. Hier kommt auch die Justiz und die Strafverfolgung ins Spiel. Unsere Veranstaltung widmete sich vor allem dem Thema, wie man online mit radikalisierungsgefährdeten Menschen umgehen kann. Wie können wir für diese Menschen sichtbarer sein als Extremisten? Was können innovative Ansätze sein? Welche Formate brauchen wir?
„Wir haben beim ISD ein Pilotprogramm, wo wir online Menschen identifiziert haben, die im Radikalisierungsprozess waren (…). Dann haben wir mit unserem Netzwerk von ehemaligen Extremisten, Aussteigern und Psychologen gearbeitet und haben auch unterschiedliche Methoden getestet. Das ganze war online und hat sich 1:1-Counter-Conversations genannt. Wir versuchten, zu analysieren, wer mit welchen Kommunikationsmethoden in dieser Intervention die besten Resultate erzielt hat. Spannend war, dass die Überlebenden die längsten Konversationen mit Extremisten hatten und dass die es auch geschafft haben, sie zu überzeugen, dass sie offline auch noch weiter machen mit einem Interventionsprogramm.“
Wie erkennt man Radikalisierung? Wir haben diskutiert, wann überhaupt in Diskussionen eingegriffen werden sollte. Kritische Kommentare sind nicht immer gleich Hass und Hetze. Wie können wir alle einander besser verstehen lernen, ohne gleich Fronten zu bilden?
„Es gibt auch Fälle, wo man aufpassen muss, dass man harte Kritik oder ironische Sprache nicht mit Hassrede verwechselt. Es gibt ja durchaus auch den sogenannten 'besorgten Bürger', der nicht ganz zu unrecht einige Sachen kritisiert oder wütend ist auf die Regierung. Diese Wut muss man ihm auch zugestehen, ohne ihm gleich über den Mund zu fahren. (...) Wir versuchen einzuschreiten, wenn es herabwürdigend ist, wenn es pauschal wird, wenn es unsachlich wird, wenn es von oben herab ist (…). Wir sehen auch schnell, wenn es koordinierte Sachen sind.“
Mehr Zusammenarbeit, eine gemeinsame Zielsetzung
Sehr einig waren sich alle Teilnehmenden, dass es mehr Austausch zwischen Institutionen geben muss. Wir wünschen uns eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem Privatsektor, der Zivilgesellschaft, der Politik und auch mit den Medien. Es existieren derzeit viele negative Synergieeffekte, die unsere Gesellschaft beeinflussen. Wir müssen die Positiven schaffen.
„Ich hoffe, dass das der Anfang von einer größeren Vernetzung wird. Wir können viel voneinander lernen. Da ist noch viel Potenzial und das hier war hoffentlich ein Auftakt."