Portrait Jolanda Spiess-Hegglin, Gründerin von #NetzCourage
Du bist als Social Hero für den DIGITAL FEMALE LEADER AWARD 2019 nominiert. Das hört sich für uns völlig gerechtfertigt an. Was bedeutet das für dich?
Für mich ist die Nominierung eine große Überraschung, die Teilnahme am Finale, gerade in der Kategorie #SocialHero, ehrt mich wahnsinnig. Es ist ein Zeichen dafür, dass man meine Arbeit international wahrnimmt und ich tatsächlich etwas bewege, so genau weiss man das selbst ja nie wirklich. Hätte ich mir so nie vorzustellen gewagt.
Seit Jahren bist du mit #Netzcourage Motor für Aktivismus gegen Hate Speech, Diskriminierung und Rassismus im Netz. Wir treffen dich auf diversen Konferenzen und du warst schon mehrfach Gast bei NETTZ-Events. Für alle, die dich nicht so gut kennen, was treibt dich an?
Ich habe vor fünf Jahren etwas erlebt, was ich niemandem wünsche, jedoch waren die Auswirkungen noch viel schlimmer als das Erlebte selber. Als Politikerin der Grünen besuchte ich eine politische Feier. Ich erwachte am darauffolgenden Morgen zu Hause, ohne dass ich mich an die Nacht erinnern konnte, ich hatte lediglich starke Unterleibsschmerzen. Es stand eine Schändung unter K.O.-Tropfen im Raum. Im Krankenhaus ließ man mich 9 Stunden warten, der Drogennachweis gelang nicht mehr. Jedoch fand man zwei männliche DNAs, eine in mir drin, die andere in der Unterwäsche.
Die Boulevardpresse erfuhr davon - wahrscheinlich gab es ein Informationsleck im Krankenhaus oder bei der Polizei – und druckte die Geschichte an Weihnachten, mit meinem Namen und meinem Foto auf die Titelseite.
Von da an gab es kein Halten mehr. Da die Untersuchungen gegen die mutmasslichen Täter später aus Mangel an Beweisen eingestellt wurden, wurde ich medial zur Täterin geformt, die mutmassliche Schändung wurde als «Sex-Skandal» oder «Sex-Affäre» verharmlost.
Ich erfuhr die letzten fünf Jahre dermassen viel Hass – vor allem virtuelle Gewalt im Internet – und war am Anfang so allein, dass ich mich politisch zurückzog und die Anlaufstelle, welche mir damals fehlte, selbst gründete. Seither engagiere ich mich gegen Hass im Netz, gegen Diskriminierung und Sexismus und für eine menschenwürdige Gesprächskultur. Und unterstütze andere Betroffene von Cybergewalt.
Mit welchen Maßnahmen versucht ihr für ein gutes Miteinander in digitalen Räumen zu kämpfen und wo siehst du die größten Hürden?
Ich habe mit Dialog sehr gute Erfahrungen gemacht, denke sogar, dass dies in der überschaubaren Schweiz die Lösung des Problems sein könnte. Mit dem Schweizer Justizsystem sind wir euch gegenüber klar im Vorteil. Bei uns ist es seit der letzten Revision der Strafprozessordnung möglich, dass Staatsanwält*innen nach einer Anzeige Täter und Opfer an einen Tisch bringen und ein Gespräch moderieren können. In 95% der Fälle gelingt es, sich auszusprechen, die Anzeige gegen meine Droher und Hater ziehe ich dann gegen eine gemeinnützige Spende zurück. Dies gibt den Täter*innen die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust und ohne Strafregistereintrag aus ihrem Verhalten zu lernen.
Oft gehen wir im Anschluss jeweils noch Kaffee trinken, ein paar dieser geläuterten Hater*innen sind inzwischen Mitglied bei #NetzCourage und haben mit der Hetzerei aufgehört.
Jedoch gibt es Kreise, welche nie damit aufhören werden. Politische Meinungsmacher, welche ihre Anhängerschaft mit Hate Speech scharfmachen. Unanständige Pöbler, Trolle. Vielleicht versucht man da am besten, den Schaden zu begrenzen indem man sie isoliert und wartet ab, bis sie das Internet irgendwann verstanden haben oder sie das Gesetz zu spüren bekommen. Mir ist bewusst, dass dieses Vorgehen für Deutschland nicht gelten kann, die Situation ist eine andere.
In deiner Selbstbeschreibung auf Twitter fügst du an: [shitstormresistent / nicht deine Projektionsfläche] Wirkt das bzw. wie bewältigst du die Reaktionen auf deine Netzaktivitäten?
Es stellt immerhin klar, dass mir der ganze Dreck nichts mehr ausmacht. Da verlieren einige schon im Voraus den Spass am Trollen und Haten. Ich blockiere auch relativ zügig. Beobachte sie aber selbstverständlich mit Zweitaccounts weiterhin. Allgemein werde ich jetzt nicht mehr oft wegen dem ungeklärten Vorfall von damals angegriffen, da dies medial recht gut aufgearbeitet wurde (oder ich die Journalist*innen durch gewonnene Gerichtsprozesse dazu gezwungen habe). Jedoch beschimpft, verleumdet und bedroht man mich heute wegen meiner Aktivität gegen Hass. Es ist der beste Beweis dafür, dass es dieses Engagement braucht.
Ich habe letzten Frühling den Gerichtsprozess gegen den Ringier Verlag gewonnen. Das Gericht hat festgehalten, dass die Revolverpresse meinen Namen gar nie hätte nennen dürfen, da ich damals ein Recht auf Opferschutz gehabt hätte. Sogar mit diesem Urteil habe ich mir viel Hass eingefangen. Dies sagt doch eigentlich recht deutlich, dass ich für die Wutbürger lediglich eine Projektionsfläche bin.
Du sagst selbst in dem kurzen Interview auf der Webseite des Awards, dass du in der Rolle der Aktivistin mehr erreichen kannst als als Politikerin. Was heißt das allgemein für Engagement?
Das Internet, Soziale Medien, sind ein Geschenk. Frauen, Migrant*innen, Andersgläubige, LGBTQIA-Menschen und überhaupt Minderheiten – sie alle erhalten eine Stimme. Eine gleich laute Stimme wie jene, welche bisher privilegiert waren und bevorzugt wurden. Ohne Soziale Medien hätte ich mein Erlebtes und die Medienhetze nicht aufarbeiten und richtigstellen können. So geht es vielen.
Viele Menschen, vor allem aber meine ehemalige Partei, haben mir ja damals geraten, mich zu löschen, alle Accounts zu deaktivieren, damit «Gras drüber wächst». Das wollte ich aber eben explizit nicht, das haben die damals schon nicht verstanden, ich wollte die richtige Geschichte erzählen. So erhielt ich nach einiger Zeit eine Reichweite, von welcher Politiker, aber vor allem gewisse Medien nur träumen können. Meine Inhalte kann ich heute gezielt da verbreiten, wo sie hingehören. Ich bin nicht mehr auf Journalist*innen angewiesen. Weil ich wiedermal nicht das machte, was man von mir verlangte.
Du bist von der Betroffenen zur Aktivistin geworden. Aufgrund deiner Geschichte kämpfst du für ein Netz, in dem Frauen sich gerne aufhalten und am Diskurs beteiligen. Darum geht es auch in unserem Aufruf #netzohnegewalt, den wir mit einigen Frauen im September gestartet haben. Wie hältst du von unserer Aktion?
Das ist ein unglaublich wichtiges Engagement. Ich will nicht in einer Welt leben, in welcher ich mich aus Angst vor Konsequenzen anders äußere. Digitale Gewalt ist real und Frauen erleben sie viel heftiger und in einer sexualisierten Form, welche sehr schmerzhaft ist. Es ist absolut großartig, dass so viele Frauen mit ihren Namen für #netzohnegewalt einstehen. Ihr seid Heldinnen!
Das Phänomen Hate Speech ist ein globales Problem, das sich jedoch auf sprachliche “Territorien” begrenzt. Wie können wir uns international besser vernetzen, uns gegenseitig unterstützen und voneinander lernen?
Indem wir so weitermachen und unsere Aktivitäten verstärken und vernetzt denken. Die Landesgrenze spielt ja lediglich noch juristisch und im Fall der Schweiz so ein bisschen von der Mentalität her eine Rolle. Wir haben zum Beispiel selten problematische Fake-Accounts. Schweizer schimpfen und drohen lieber mit Klarnamen. Das meine ich mit Mentalität. Aber sonst hat der virtuelle Lebensraum keine Grenzen. Wir müssen umdenken und lernen, in anderen Dimensionen zu handeln. Ich bin beeindruckt, wie in Deutschland an Lösungen gearbeitet wird. In der Schweiz hinken wir ein bisschen hinterher.
Du hast einen guten Einblick, was deutschsprachigen Aktivismus angeht. Wie könnten konkret Initiativen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich stärker in den Austausch kommen und/oder was können wir voneinander lernen?
Vernetzungstreffen, wie sie «Das Nettz» organisiert, sind glaub ich das Wichtigste. Mir bringt’s unheimlich viel, euch real und offline zu treffen und mich mit euch auszutauschen, mich bei euch Inspiration zu holen. Dafür reise ich gern immer wieder nach Berlin. Ohne euch würde ich mich noch immer recht allein fühlen mit meinem Aktivismus.
Was sind für dich im Moment die wichtigsten Baustellen?
In der Schweiz steht #NetzCourage außer Konkurrenz, was ja eigentlich schön ist, doch ich kann das nicht alles alleine bewältigen. Ich brauche nach einer ersten Standortbestimmungs- und Aktivitätsphase nun die Politik, welche Rahmenbedingungen schafft und finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Da seid ihr uns definitiv voraus.
Glücklicherweise sind bei den Nationalratswahlen im Herbst sehr viele junge Frauen ins Schweizer Parlament gewählt worden, welche wissen, was Hass im Netz ist und welche ich z.T. bereits unterstützt habe. Ich denke, dass die politischen Hürden für Verbesserung nun gut zu überwinden sind und es vorwärts geht.
Wie kann man dich und #NetzCourage unterstützen?
Vernetzt euch länderübergreifend! Ich komme sehr gerne zu euch und spreche in Vorträgen oder Workshops über meine Arbeit und über das, was noch zu bewältigen ist. Außerdem ist #NetzCourage auf Spenden und Förderinstitutionen angewiesen, den grossen Teil der Arbeit mache ich noch immer ehrenamtlich. Ich hoffe, dass ich dies mal ändern kann. Meldet euch doch für Vernetzung und Ideen.
Gibt es noch etwas, das du gern mitteilen würdest?
Danke herzlichst für eure Arbeit <3