Statement

#blacklivesmatter, #kritischesWeißsein - Wie schaffen wir einen Systemwandel?

Dieser Artikel ist aus einer weißen Perspektive geschrieben. 

Rassismus #beiunsauch 

Der gewaltsame Tod von George Floyd löste eine riesige Protestwelle aus über institutionellen Rassismus und Polizeigewalt in den USA. Über die sozialen Medien wurde #blacklivesmatter schnell zum Trend. Empörung über Polizeigewalt und institutionellen Rassismus machte sich auch in anderen Ländern breit. In Deutschland wird Rassismus intensiver als sonst üblich thematisiert. Unter den Hashtags #beiunsauch, #schwarzesDeutschland finden sich bewegende Erfahrungen derjenigen, die täglich von anti-Schwarzem Rassismus betroffen sind. Obwohl Betroffene seit Jahrzehnten davon berichten, opfern viele einen Teil ihrer Lebensenergie dafür, immer wieder über ihre traumatisierenden Erlebnisse zu berichten.

Durch die Texte, die ich schreibe, und die Radiobeiträge, die ich baue, werde ich dazu konditioniert, für Geld meinen Schmerz und den anderer Schwarzer zur Schau stellen und immer wieder auszupacken.
Malcolm Ohanwe
Journalist, Produzent "Kanackische Welle" (Zitat aus SPIEGEL-Interview)

Rassismus ist Gewalt, sei sie durch Worte oder durch Taten ausgeübt. Zahlen von unabhängigen Beratungsstellen belegen die geteilten Erfahrungen: Zwei Drittel aller rechten Gewalttaten in Deutschland sind durch Rassismus motiviert. Rechtsterroristische Taten wie in Hanau gelten als sogenannte Bekenntnistaten. Die meisten rassistischen Vorfälle werden nicht angezeigt. Entsprechend ist die Dunkelziffer wesentlich höher. 

Rassismus setzt sich im Netz fort 

Online setzt sich die Diskriminierung und Hetze fort. Die im Juni 2019 veröffentlichte Studie #HassImNetz” zeigt, dass diejenigen, die aus Familien mit Migrationshintergrund kommen 6% häufiger als der Durchschnitt direkt von Hassrede betroffen sind. Befragte mit Migrationshintergrund sahen 10% häufiger Hasskommentare im Netz als Befragte ohne Migrationshintergrund. Die Befragten ohne Migrationshintergrund, die Hassrede im Netz wahrgenommen haben, bestätigten, dass die Hasskommentare sich zu 94% auf Menschen mit Migrationshintergrund bezogen. 

Wenn man Rassismus als Denkweise begreift, die bewusst und mit böser Absicht erfolgt, dann sind nur wenige Menschen Rassisten. Rassismus ist ein System, das mit der Absicht entstanden ist, eine bestimmte Weltordnung herzustellen.
Alice Hasters
Journalistin, Buchautorin, Podcasterin (Zitate aus Tagesspiegel-Interview)

Rassismus ist ein System

Das rassistische Weltbild wurde durch jahrhundertelange Praktiken des Sklavenhandels und Kolonialismus zementiert. Es basiert darauf, dass letztendlich weiße Menschen oben in der Hierarchie stehen und Schwarze Menschen ganz unten. Dies äußert sich in der Staatsbürgerschafts- und Einwanderungspolitik, dem gängigen Afrikabild, der Diskussion über Formulierungen in deutschen Kinderbüchern, Racial Profiling, der Frage, wer in einen angesagten Club reingelassen wird usw. Die Auswirkungen sind vielfältig und weißen Menschen häufig nicht bewusst. 

Wir können Rassismus nur wirksam begegnen, wenn wir Mut zur Selbstkritik haben. Es ist emotional anstrengend, selbst radikal zu hinterfragen. Aber es ist unumgänglich, wenn wir uns und das System ändern möchten. Lernen erfordert Mut, Demut und Ausdauer. Auch Fehler machen ist Teil davon, Hauptsache wir meinen es ernst. Sich unsicher und unwohl zu fühlen, ist Teil der sogenannten “weißen Zerbrechlichkeit”. 

Was bedeutet es, eure Solidarität zu zeigen, wenn sie sich auf eine Demo beschränkt, aber nicht darüber hinaus geht? Was tut ihr an den Tagen, an denen ihr nicht auf der Straße demonstriert? Wenn ihr [nur] auftaucht, sobald der Mord an Schwarzen Menschen trendet, dann seid ihr nur ein weiteres Problem im Kampf um Racial Justice.
Black Lives Matter Berlin
https://www.blacklivesmatterberlin.de/georgefloyd-and-actionable

In 10 Punkten zum Systemwandel 

1. Wir müssen Betroffenen zuhören

Da reichweitenstarke Sendungen der öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme das Thema Rassismus in Deutschland ignorierten, nahm sich Carolin Kebekus in ihrer Sendung dem Thema an. Sie ließ diejenigen zu Wort kommen, die von anti-Schwarzem Rassismus in Deutschland betroffen sind. Schaut euch das unbedingt an. 

Es gibt so viel Expertise, die häufig übersehen wird: die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, neue deutsche organisationen (ndo), inspirierende Schwarze Frauen, Prof. Dr. Maisha-Maureen Auma u.v.m., die hier mit ihren Publikationen, Forderungen etc. aufgelistet sind. 

2. Lernreise – kritisches Weißsein – antirassistisch denken lernen 

Ja, wir sind Teil des Problems. Zu erklären: “Ich bin gegen Rassismus” reicht nicht aus. Wir müssen aktiv lernen, Antirassist*innen zu sein, wie wichtige Aktivist*innen wie Tupoka Ogette und Noah Sow nicht müde werden zu betonen. Durch Lektüre, Gespräche und Weiterbildungen können wir lernen unsere privilegierte Position wahrzunehmen. Diese Lernreise muss individuell und im Kollektiv stattfinden. Deutschland befindet sich noch am Anfang der Lernreise und darf jetzt nicht stecken bleiben. Antirassistische Übungen müssen in alle (Weiter-)Bildungsangebote eingebaut werden. Antirassismus-Weiterbildungen von Tupoka und Stephen Lawson findet ihr hier. Weiterbildungen werden u.a. auch von Noah Sow, Natasha Kelly sowie dem IDB (Institut für diskriminierungsfreie Bildung) angeboten. 

blm
Screenshot von Twitter-Bild des Verlags @ocelot_berlin  |  © ocelot Verlag
Schwarz - nachfolgend immer groß geschrieben - soll darauf aufmerksam machen, dass es kein wirkliches Attribut ist, also nichts “Biologisches”, sondern dass es eine politische Realität und Identität bedeutet. Auch hat “Schwarz” den Vorzug, dass es ein selbst gewählter Begriff ist und keine Zuschreibung.
Noah Sow
Buchautorin, Musikerin, Künstlerin (Zitate aus dem Buch "Deutschland Schwarz Weiß")
Menschen so zu bezeichnen, wie sie bezeichnet werden wollen, ist keine Frage von Höflichkeit, auch kein Symbol politischer Korrektheit oder eine progressiven Haltung - es ist einfach eine Frage des menschlichen Anstands. Die Unbenannten sind Menschen, deren Existenz nicht hinterfragt wird. Sie sind der Standard. Die Norm. Der Maßstab.
Kübra Gümüsay
Buchautorin, Bloggerin (Zitate aus dem Buch "Sprache und Sein")

3. Sprache kritisch reflektieren und verändern, gegen rassistische Narrative angehen 

Einige deutsche Wörter, die genutzt werden, um Schwarze Menschen zu beschreiben, triefen von Imperialismus, Kolonialismus, Ethnozentrismus. Sprache löst nicht das Problem, ist aber ein wichtiger Baustein. Denn Sprache beeinflusst unsere Wahrnehmung und zeigt unsere Haltung. In der deutschen Medienberichterstattung wird immer wieder deutlich, dass davon ausgegangen wird, Deutsch sei gleichbedeutend mit weiß. 

Rassistische Bilder und kulturelle Aneignung in Kinderliedern, -reimen und -spielen prägen unsere Wahrnehmung. Es braucht auch sichtbare Korrekturen. Filme etc., die ein rassistisches Gedankengut vermitteln, müssen mind. als solche gekennzeichnet werden. 

4. Empowerment und Teilhabe für Schwarze 

Die Initiativen ISD-Bund e.V. und Each One Teach One (EOTO) e.V. leisten zentrale Arbeit für das Empowerment von Schwarzen Menschen in Deutschland. Programme wie z.B. NILE (Network Inclusion Leaders), die Sichtbarkeit und Teilhabe in Führungspositionen unterstützen, gilt es zu fördern. Es braucht geschützte Räume, in denen keine Diskriminierung oder Infragestellung stattfindet. Auch digital braucht es geschützte Räume für diskriminierte Gruppen. Empowerment muss wichtiger Bestandteil jeglicher Engagementförderung (z.B. Demokratiefördergesetz) sein. 

Hier findet ihr Petitionen und Spendenaufrufe, die ihr unterstützen könnt. 

5. Vielfalt feiern und fördern 

Schon sehr lange sind wir ein heterogenes Land. Diese Vielfalt sollten wir feiern. Doch wachsen in Deutschland viele Kinder “mit Migrationshintergrund” auf, denen von klein auf das Gefühl gegeben wird, diese Vielfalt bedeute einen Makel statt Reichtum. Diese Vielfalt sollte auch durch Entscheidungsträger*innen repräsentiert werden. Entsprechend müsste jede/r vierte/r Politiker*in eine Einwanderungsgeschichte haben, ebenso in der Polizei, der Justiz, der Bundeswehr, der Medienlandschaft usw. (Quelle: Mikrozensus 2018). 

6. Betroffene besser schützen 

Wir brauchen konsequent umgesetzte Anti-Diskriminierungsgesetze auf Bundes- wie Landesebene bezüglich aller Lebensbereiche. Betroffenenberatungsstellen brauchen langfristige Finanzierung. Betroffene von Rassismus (ebenso wie Engagierte, die sich für Antirassismus einsetzen) müssen konkrete Schutzmöglichkeiten wie z.B. Melderegistersperren schneller und mit weniger Hürden in Anspruch nehmen können. 

7. Daten erheben, Forschung finanzieren 

Unabhängige Zahlen zu Diskriminierung, rassistischer Gewalt und ihren Auswirkungen auf die Betroffenen und ganze Communities gibt es noch zu wenige. In acht Bundesländern sind die Betroffenenberatungsstellen so schlecht ausgestattet, dass sie kein Monitoring machen können. Fallzahlen von rassistisch motivierter Gewalt beziehen sich de facto nicht auf das gesamte Bundesgebiet und Betroffenenberatungsstellen mahnen seit längerem an, dass die offiziellen Statistiken zu wenige Fälle darstellen. Hier braucht es Finanzierung, Mut zur Selbstkritik und praxisnahe Forschung an deutschen Universitäten. 

Um die Datenlage zu verbessern hat EOTO das Projekt #Afrozensus gestartet: eine Umfrage, die sich an Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen richtet, die in Deutschland leben. Auf Basis der Ergebnisse werden konkrete Maßnahmen gegen Diskriminierung und für mehr Teilhabe formuliert.  

8. Den deutschen Kolonialismus aufarbeiten 

Das Wissen darüber, dass Deutschland eine brutale Kolonialmacht war, ist in der Gesellschaft kaum vorhanden und muss individuell erarbeitet werden. Wir brauchen eine institutionelle Verankerung in den Lehrplänen der schulischen und außerschulischen Bildung sowie Forschung an deutschen Universitäten. Das ist sehr wichtig, denn unser Denken und unsere Politik sind bis heute durch diese vergessene Phase geprägt. 

Berlin ist erste Schritte in Richtung Aufarbeitung gegangen, in Zusammenarbeit mit dem Bündnis Decoloninze Berlin e.V., dem neben ISD-Bund, auch AfricAvenir International, Berlin postkolonial und Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag e.V. (BER) angehören. Straßen und Denkmäler, die Rassist*innen ehren, müssen umbenannt oder zumindest markiert werden. Das Gröbenufer in Berlin heißt mittlerweile May-Ayim-Ufer. Ein paar Ausstellungen in Berliner Museen sind in Planung. Wir brauchen Lernorte, in denen koloniales/ antirassistisches Denken und seine Konsequenzen erfahrbar werden. 

Anti-rassistische Arbeit beginnt im eigenen Umfeld. In der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz usw. Es ist definitiv unangenehm und ruiniert vielleicht den Abend, aber diese Gespräche sind wichtig, denn Schwarze Menschen sterben wegen diesen Vorurteilen.
Kemi Fatoba
Journalistin, Mitgründerin DADDY Magazin Berlin (Zitate aus NETTZ-Interview)

9. Solidarität und Zivilcourage zeigen

Schweigen stärkt diejenigen, die Rassismus verbreiten. Zivilcourage ist auf allen Ebenen zentral, sowohl analog als besonders auch im Netz. 

10. lokales und globales Handeln für Gerechtigkeit 

Reparationen wären nur fair, denn unser Wohlstand basiert auf jahrhundertelanger Unterdrückung und einem System der institutionellen Ungleichheit, weltweit. Es braucht Reformen unserer internationalen Systeme und viele große und kleine Schritte. 

Was tut Das NETTZ konkret gegen Rassismus? 

Wir sind ein Teil des betterplace lab und mit dem gesamten Team haben wir uns auf diese Lernreise begeben, wollen mehr verstehen, wie wir antirassistisch denken und handeln können und werden regelmäßig dazu berichten. In Gesprächen und Weiterbildungen vertiefen wir unseren Kenntnisstand reflektieren unsere Gedanken kritisch. 

Als NETTZ setzen wir uns für Solidarität, eine respektvolle Diskussionskultur im Netz und gegen Vorurteile ein. Wir ermutigen andere, sich zu positionieren, machen Engagierte gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sichtbar(er), führen Hintergrundgespräche mit Entscheidungsträger*innen aus Tech-Plattformen und Politik und geben dort konkrete Empfehlungen weiter, so aktuell auch zum Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Dieser wurde als Reaktion auf den rassistischen Anschlag in Hanau gebildet und die Erwartungen an ihn sind hoch, v.a. von denjenigen, die müde sind von ihren jahrzehntelangen Kämpfen für mehr Teilhabe und Respekt. 

Beim Community Event 2020 vom 1.-2.10. wollen wir am ersten Vormittag im Gespräch mit Betroffenen von Rassismus herausfinden, wie wir auf allen Ebenen ein stärkeres Bewusstsein für Diskriminierung schaffen können. Mit diesem gestärkten Bewusstsein gehen wir in die nächsten Sessions, die teilweise darauf aufbauen.

Schickt uns (info@das-nettz.de) gerne eure Erfahrungen, eure Ideen, was wir als NETTZ und wir alle als Gesellschaft tun können und müssen, damit #blacklivesmatter überall gelebt wird. 

Zum weiterlesen und lernen: 

  • Test über eigene Vorurteile
  • Ressourcen-Liste mit (Hör-)Büchern, Organisationen etc.
  • englisch-sprachige Bücher zum kritischen Weißsein
  • Bibliothek/Archiv von EOTO
  • Infobrief der Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung zur Internationalen UN Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft (2015 – 2024) 
  • Being Black in the EU - Second European Union Minorities and Discrimination Survey (FRA - European Union Agency For Fundamental Rights) 
Foto Hanna Gleiß
Autor*in

Hanna Gleiß

(sie/ihr) Co-Gründerin / Co-Geschäftsführerin


 

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